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Von Wolhynien immer Richtung Westen

    1939: Heimat auf Abruf

    Nun gab es also wieder Krieg um Polen. Der Aggressor Adolf Hitler hatte noch kurz davor mit Josef Stalin einen Nichtangriffspakt geschlossen. In einem geheimen Zusatzprotokoll regelten die Machthaber ihre jeweiligen Interessen am polnischen Territorium, zogen eine imaginäre Grenzlinie zwischen den deutschen und sowjetischen Ansprüchen und verschoben auch Wolhynien erneut, wie einen Bauer auf dem Schachbrett. Innerhalb von drei Monaten wurden Fakten geschaffen und die polnischen Ostgebiete den Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland zugeschlagen. Wolhynien gehörte ab dem 4. Dezember 1939 zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

    Spätestens jetzt war die Realität des Krieges bei unseren Familien angekommen, denn sie sollten in einer sprichwörtlichen Nacht- und Nebelaktion nach Westen, gemäß Hitlers Parole „Heim ins Reich“, umgesiedelt werden. Die Menschen wurden vor die Entscheidung gestellt, entweder ihre Existenz aufzugeben und nach Westen zu ziehen, wo ihnen eine angemessene Entschädigung versprochen wurde, oder zu bleiben, von den Sowjets enteignet zu werden und einer ungewissen Zukunft unter kommunistischer Herrschaft entgegenzusehen.

    Eine Kommission aus Russen und Deutschen ging von Ort zu Ort und dokumentierte in Vermögenslisten Gebäude, Vieh und Inventar, alles, was zurückbleiben musste. Die Bauern protestierten gegen die Unterbewertung ihres Besitzes und die Kommission beschwichtigte: „Regt euch nicht auf, das wird in Deutschland großzügig entschädigt.“ Ihr war wichtig, dass alles schnell über die Bühne ging. Quellen belegen, dass damals 128.000 ethnische Deutsche aus Wolhynien und dem südlich angrenzenden Galizien evakuiert wurden, darunter alle meine Verwandten. Keiner von ihnen wollte bleiben.

    Nie hat mir meine Mutter Details dieser Umsiedlungsaktion geschildert. Ich selbst war zu klein und habe keinerlei Erinnerungen daran. Die Umstände müssen unmenschlich gewesen sein, wie in Zeitzeugenberichten zu lesen ist. Mein 30 Jahre alter Vater zog sich auf dem Treck mit dem Pferdefuhrwerk Erfrierungen an den Beinen zu und litt zeitlebens unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

    Wir Kinder und die Frauen wurden per Eisenbahn unter großen Strapazen nach Westen geschafft und viele bezahlten die Tortur mitten im Winter mit dem Leben, so auch meine kleine Schwester Reintraud. Sie starb am 4.2.1940 in Frankenberg bei Chemnitz, wie mir die DDR 1973 formell mit einer Sterbeurkunde bestätigte, die ich bei den Behörden in Karl-Marx-Stadt angefordert hatte. Auch ich kam wohl mehr tot als lebendig in Sachsen an. Meine Oma erzählte immer im Rückblick auf diese Zeit: „Den Jungen habe ich von Gott erbeten.“

    Aus:
    Von Wolhynien immer Richtung Westen
    Mein schicksalhafter Lebensweg
    Walter Kuhnt
    2021