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Hürdenlauf
Mein Leben mit Rheuma

    Hürdenlauf<br> Mein Leben mit Rheuma 1

    Das Feuer in mir

    Der Stress der Vorjahre fiel gänzlich von mir ab, es war endlich Zeit zum Durchatmen. Ich hatte das Gefühl zur Ruhe zu kommen und ich zog alle Register, um mich von meiner Trauer abzulenken. Darin war ich meisterlich. Für das Glück des Augenblicks konnte mein Kopf jedes Problem wegdrücken.

    Mein Körper nicht. Ich war drei Monate in der ELM-Apotheke, da brach in mir ein Feuer aus, das ich unmöglich ignorieren konnte. Die Polyarthritis flammte sehr plötzlich und mit ungekannter Wucht auf, jeden Tag woanders: heute rot-geschwollene Ellbogen, morgen heiße, dicke Handgelenke, immerzu wulstige Finger und dann auf einmal eine Morgensteifigkeit, von der ich bis dahin gar nicht wusste, dass es sie gab.

    Herr Kammerer, ein stiller, konzentrierter Mann, der von seinem Schreibtisch aus leise und unaufgeregt die Fäden in der Hand hielt, verfolgte meine immer deutlicheren Zeichen von Krankheit und sprach mich an:

    „Mensch Mädel, was ist denn das? Geh mal zum Arzt.“

    Er hatte irgendwie einen Narren an mir gefressen und machte sich ganz offensichtlich Sorgen. Ich gab ihm Recht, ich musste unbedingt noch einmal zu Dr. Thiel, der mich seit der Diagnose zwei Jahre davor nicht mehr gesehen hatte. Der Arzt besah sich alles, röntgte die Hände und rief mich ins Sprechzimmer. Da saß er vor den Röntgenbildern und als er sich mir zuwendete, sah ich Tränen in seinen Augen.

    „Mensch, das ist ja alles …“, er stockte. „Die Gelenke sind ja alle verschoben. Da ist ja kein Knochenspalt mehr frei.“ Er zeigte mir die Bilder und tatsächlich: Da war kein einziger Gelenkspalt mehr zu sehen.

    „So etwas habe ich noch nie gesehen“, flüsterte er heiser und blickte mir in die Augen.

    „Hatten Sie denn keine Schmerzen?“

    „Ne …“, zuckte ich mit den Schultern. „Das tut erst seit drei Monaten weh.“

    „Mensch, das gibt es doch gar nicht.“ Er war fassungslos.

    „Ich hab gar nicht auf mich geachtet“, war das Einzige, was mir dazu einfiel.

    „Junge Frau, ich sag es Ihnen nicht gern, aber Ihre Gelenkschäden sind irreparabel.“

    Ich schluckte. Ich verstand wohl, dass mein aggressiv fehlgesteuertes Immunsystem die Knorpel und Knochen meiner Fingergelenke innerhalb von zwei Jahren völlig schmerzfrei vollständig zerstört hatte. Mir war es gelungen, den Schwelbrand in mir so lange zu unterdrücken, bis es zu spät war. Meine Lage war ernst, das wurde mir jetzt klar. Weil man äußerlich aber nur die Schwellungen sah, konnte ich das Ausmaß seiner Worte nicht ermessen. Binnen zwölf Monaten sollten meine Finger für jedermann sichtbar gekrümmt sein und es mir zunehmend schwer machen, meinen Beruf auszuüben. Das konnte ich nicht ahnen. Man spricht in meinem Fall von einem umgekehrten Krankheitsverlauf, der nur bei ganz wenigen Rheumatikern vorkommt. Normalerweise verspüren Betroffene sehr früh Schmerzen in den Gelenken und gehen deshalb nicht darüber hinweg. Rechtzeitig behandelt, muss es erst gar nicht zu Deformierungen kommen. Mir ist in über 35 Jahren eigener Rheumageschichte niemand mit einem vergleichbaren Verlauf begegnet.

    „Ok, jetzt müssen wir handeln.“ Dr. Thiel fasste sich und eröffnete mir die Möglichkeiten. Die waren Ende der 1980er-Jahre sehr beschränkt, denn außer Cortison und einem Malariamittel, von dem man annahm, dass es half, gab es nichts, was man einer 25-jährigen Betroffenen geben konnte. Im Laufe der Zeit kamen Mittel aus der Onkologie hinzu, aber dann hieß es:

    „Ich darf Ihnen das nicht verschreiben, weil Sie im gebärfähigen Alter sind.“

    Dr. Thiel krempelte die Ärmel hoch.

    „Gut. Sie bekommen jetzt Cortison. Als erstes Injektionen und dann Tabletten.“

    (…)

    Ich saß in kurzen Abständen vor ihm, weil ich höhere Dosen brauchte, um mein Leben so weiterführen zu können, wie ich es als junge, aktive Frau gewohnt war und wollte. Es war keine Option, meine Krankheit und die Schmerzen als zu mir gehörig anzunehmen und mich daran anzupassen. Das wäre eine Kapitulation gewesen, ich hätte in meinen Augen eine Schwäche zugeben müssen. Undenkbar! Meine Haltung empfand ich gleichzeitig als so normal, dass ich nichts Falsches daran erkennen konnte. Andere Rheumatiker kannte ich nicht und wollte ich auch nicht kennenlernen, weil das meiner Unkenntnis entsprechend nur alte Menschen waren. Welche Erkenntnisse hätten mir solche Begegnungen gebracht? Mein Weg war es, so viel Cortison zu schlucken, bis mein Körper funktionierte und mein Leben ohne Einschränkungen weiterging. Dass ich die Dosen dafür immer weiter erhöhen musste – bald waren es 100 Milligramm täglich – nun ja, das war alternativlos. Die Quittung bekam ich zehn Jahre später: Mit Mitte 30 hatte ich eine manifeste Osteoporose mit zahlreichen gesinterten Wirbelkörpern, ganz zu schweigen von den anderen Knochenbrüchen  ...

    Und doch ist mir wichtig zu sagen: Ich hadere nicht und bereue nichts, denn das Cortison verschaffte mir sehr gute Jahre mit einer hohen Lebensqualität. Die Schmerzen waren auf diese Weise erträglich. Ich konnte meinem Beruf nachgehen, wir bauten unser Haus, machten große Reisen, waren auf der Skipiste und beim Surfen. Meine schönsten Erinnerungen reichen in diese ersten Jahre mit der Krankheit zurück.

    Aus:
    Anne-Katrin Dörries-Pramann
    Hürdenlauf
    Mein Leben mit Rheuma, 2023