„Die will dich sehen“
Nun war diese Frau also wiederaufgetaucht und wollte mich sehen. Alle waren der Meinung, dass man das jetzt, da die Wahrheit raus war, wohl nicht mehr verhindern konnte. Alles war so unwirklich und ich hoffte darauf, endlich aus diesem bösen Traum zu erwachen. Hatte mich eben noch das Heim emotional gefangen genommen, tauchte auf einmal meine leibliche Mutter als mysteriöses und bösartiges Wesen auf. Ich verstand nichts, außer: Diese Frau konnte mich unmöglich lieben, wenn sie die Familie, die mich aufzog, wie ein Schmarotzer aussaugte.
„Warum bezahlt ihr die eigentlich?“, entfuhr es mir.
„Hört auf zu zahlen!“
„Ja… das Zahlen bringt auch nichts“, jammerte Mama.
„Die will dich sehen!“
„Ja, ich sie auch“, erwiderte ich mit fester Stimme und Mama zischte: „Ich aber nicht!“
Ihr entschlossener Blick erschreckte mich. Das kannte ich nicht von ihr. „Mama, es ändert doch nichts daran, dass ich mich euch zugehörig fühle. Aber ich möchte sehen, wo ich herkomme.“ Ich musste nun meinerseits Mama trösten, der die Angst im Gesicht stand.
Anna sprang mir zur Seite: „Mama, wenn Michaela uns verlassen wollte, wäre sie längst gegangen!“ Und zu mir gewandt: „Du wirst enttäuscht sein, wenn du sie siehst. Mag sein, dass du es bereuen wirst.“
Diese Worte saßen. Sie bohrten und arbeiteten in mir und mein spontan gefasster Mut, dieser Frau zu begegnen, wurde mit jedem Tag kleiner. Obwohl ich sie noch gar nicht kannte, nahm sie mehr und mehr Raum in unserem Leben ein. Einmal kam ich nach Hause und merkte, dass dicke Luft war. „Mama, du hast geweint. Was ist los? Habt ihr gestritten?“
Papa berichtete, die Frau sei da gewesen und habe Mama an den Kopf geworfen, dass sie mich nicht richtig erzogen hätte. Sie hätte behauptet, sich heimlich mit mir getroffen zu haben. Dabei hätte ich ihr erzählt, Mama auf gar keinen Fall als meine Mutter anzusehen, mir von ihr nichts mehr vorschreiben zu lassen und mit ihr, meiner leiblichen Mutter, zusammenleben zu wollen.
Ich war entsetzt.
Wie konnte diese Frau, der ich nie begegnet war, so dreist lügen und meine Mutter so sehr verletzen? Ich beteuerte meine Unschuld und bekam es langsam mit der Angst, dass mich meine Eltern wegen dieser Torturen tatsächlich eines Tages fallen lassen würden.
Dann tauchte sie erneut auf. Diesmal war ich zu Hause. Ich war in meinem Zimmer und las, als ich Schreie im Treppenhaus vernahm. Die Stimmen meiner Eltern kannte ich, die kreischende Frauenstimme nicht. Ich hörte, wie sie verlangte, man solle mich herausrufen – sie würde mir schon die Wahrheit sagen! Papa versuchte es im ruhigen und bestimmten Ton: „Du kannst nicht einfach in unserem Leben auftauchen und Unruhe stiften.“ Mama fuhr laut dazwischen: „Ich gebe Michaela nicht her! Sie ist mein Kind!“
Wie eine Furie schrie die andere zurück: „Ich werde ihr alles sagen und ihr werdet sie verlieren! Sie wird sich für mich entscheiden!“
Ich war voller Angst und ging wie erstarrt hinaus und auf die Eltern zu, da wurden sie ganz ruhig und führten mich zurück in die Wohnung. Die Frau verließ das Haus, ohne dass ich sie zu Gesicht bekommen hatte. Ich weinte bitterlich und zitterte am ganzen Körper. Alle rissen an mir, ich hatte keinen Einfluss darauf, was mit mir passierte oder was ich wissen durfte. Ich war ein Spielball der anderen, fühlte mich machtlos und unendlich traurig.
„Warum fragt denn keiner, was ich möchte? Warum denkt hier keiner an mich?“
Weinend ging ich in mein Zimmer. Die Eltern folgten mir und beschworen mich:
„Kind, wir wollen nur dein Bestes.“
„Ihr fragt aber nicht, was ich möchte!“
„Du bekommst alles, was du möchtest“, flehte Mama, „aber stell uns keine Fragen über die Vergangenheit!“
Aus:
N.N.
Leg los, 2018