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Immer weiter

    Immer weiter 1

    Das Jahr 1963 bot mir die besten Aussichten auf eine feste Freundin, den Gesellenbrief und den Führerschein, denn im Oktober wurde ich 18. Damit war ich zwar nicht volljährig, aber Autofahren durfte ich. Ein Auto war damals das Größte! Es versprach Mobilität, erlaubte einem zu reisen und Freiheit zu spüren.

    Davon träumten auch wir und nicht nur das: Wir planten eine große Reise für den Sommer. Mein 19-jähriger Bruder war mittlerweile Maschinenbau-Student und hatte einen israelischen Kommilitonen, der zu den Semesterferien nachhause fuhr. Wir schlossen uns ihm an. Abgesehen von dem Bedürfnis, als Jude einmal ins Gelobte Land zu fahren, trieb uns vor allem die jugendliche Neugier an. Wir wollten den Staat Israel und seine Einwohner kennenlernen, sehen, was unsere Brüder und Schwestern auf historischem Boden geschaffen hatten. Die bundesrepublikanische Gesellschaft war Anfang der 1960er Jahre Ausdruck einer autoritären Lebensform mit einem klaren kommunistisch-sozialistischen Feindbild. Israel war der komplette Gegenentwurf, seine Gründerväter Sozialisten, Humanisten, Idealisten. Die Kibbuzim verkörperten die sozialistische Grundidee und zogen junge Leute aus aller Welt an. Man brauchte kein Geld, arbeitete einfach mit und bekam, was man zum Leben benötigte.

    Wir wollten allerdings nicht zum Arbeiten nach Israel, sondern um Land und Leute, auch Verwandte, kennenzulernen. Unser Vater hatte zwei Brüder, einen in den USA, der später nach Wiesbaden übersiedelte, aber früh starb, den anderen in Haifa, wo er eine Tankstelle betrieb. Ihn wollten wir besuchen. Für argentinische Juden wie uns war es nebensächlich, dass sie aus Deutschland kamen. Für deutsche Nicht-Juden hingegen war die Einreiseerlaubnis damals nicht selbstverständlich. Vor 1935 Geborenen wurde diese nicht erteilt, alle Jüngeren benötigten ein Visum. Man muss bedenken, dass im Jahr unserer Reise bis auf das Luxemburger Abkommen von 1952, gemeinhin als Wiedergutmachungsabkommen bekannt, keine offiziellen Beziehungen zwischen beiden Staaten existierten. Dies sollte sich erst 1965 ändern, als die Bundesrepublik ihren ersten Botschafter entsandte, der für die diplomatische Vertretung des Nazi-Nachfolgestaats ein unauffälliges Haus in einem ruhigen Wohnviertel Tel Avivs anmietete, um kein Aufsehen zu erregen.

     

    Aus:
    N.N.
    Immer weiter, Mein Leben
    2022