Die Dekade, in die mein Vater hineingeboren wurde, markierte das Ende einer Epoche, die wir heute nur noch aus nostalgischen Filmen kennen, in denen das privilegierte Leben von Adelsfamilien oft verklärt nacherzählt wird. An der Kindheit und Jugend meines Vaters in der Zwischenkriegszeit gab es kaum etwas zu verklären. Er wuchs behütet auf dem Land auf und bekam von den politischen Umbrüchen vermutlich nicht viel mit, die das Leben seiner Familie auf immer verändern sollten.
Sein Vater József, Jahrgang 1883, hatte in der Lebensmitte seine offiziellen Ämter verloren: die Mitgliedschaft im 1918 aufgelösten Magnatenhaus, vergleichbar dem britischen House of Lords, und die Aufgaben am kaiserlichen Hof. Davon unberührt erlebten die Kinder unbeschwerte Jahre. Béla spielte mit seinen Brüdern und den Dorfjungen auf staubigen Plätzen Fußball und stellte mit ihnen allerlei Unfug in Ställen und Scheunen, Baumwipfeln und Bachläufen an. Sein blonder Wuschelkopf und die unschuldigen blauen Augen brachten ihm vermutlich große Sympathien ein, bewahrten ihn aber keineswegs vor Schelte und Strafe. Einmal, so erzählte er mir, hatten sie es mit dem Unsinn übertrieben und er wurde von einem Bauern heftig ausgeschimpft. Daraufhin beschwerte er sich, warum der ausgerechnet mit ihm und nicht mit den anderen Jungs schimpfte. Da meinte der Bauer: „Die anderen sind nur Dorfbuben. Du bist aber der junge Graf. Von dir kann man mehr erwarten!“
So standen die Cziráky-Jungen unter ständiger Beobachtung, wenn nicht von offiziellen Aufsichtspersonen, dann von der Dorfbevölkerung. Die Gesellschaftsordnung mochte sich verändert haben, in den Köpfen der Menschen jedoch lebte sie in ihrer vormaligen Form weiter. Und so lernte der kleine Béla, dass es Unterschiede zwischen ihm und seinen Kameraden gab und dass die adelige Herkunft ihm etwas abverlangte: Gehorsam gegenüber Gott und den Eltern, Pflichtgefühl gegenüber den anvertrauten Menschen und Besitztümern und nicht zuletzt Standesbewusstsein. „Noblesse oblige“, Adel verpflichtet, sagte er in meiner Jugend bei jeder passenden Gelegenheit zu mir, ein halbes Jahrhundert nach Ende der Kaiserzeit. Es dauerte lange, bis ich verstand, was er mir damit auf den Weg geben wollte …
Aus:
Ádám Graf Cziráky
Große Vergangenheit, großer Verlust
Vom Versuch, ein Vermächtnis zu bewahren
2024