Wir marschierten zunächst in Richtung Osnabrück. Abends klopften wir bei Bauern an, die uns ein Zimmer mit einem großen Doppelbett zur Verfügung stellten. Da durften wir auch etwas mitessen. Am nächsten Tag ging es weiter. Besonders die Jagdflieger lehrten uns unterwegs das Fürchten. Sie kamen aus heiterem Himmel und fielen im Sturzflug über alles her, was sich bewegte. Einmal hatten wir Glück, weil wir in Ein-Mann-Löcher springen konnten. Entlang vieler Ortschaften hatte man am Straßenrand solche Löcher ausgehoben, die bei Beschuss aus der Luft Schutz boten. Jede von uns kauerte mit dem Rucksack über dem Kopf in solch einem Loch und wartete, bis der Spuk vorüber war. Ein andermal waren wir gerade in einem Ort und konnten uns an die Häuserwand einer schmalen Gasse drücken, während die Patronenhülsen über uns klick, klick, klick die Ziegeln hinunter hüpften. Am nächsten Abend fanden wir ein Nachtlager in einem Kartoffelkeller. Fest in unsere Mäntel eingewickelt und die Mütze tief übers Gesicht gezogen, schliefen wir erschöpft ein.
Eines späten Nachmittags kamen im Dämmerlicht drei deutsche Panzer mit quietschenden Ketten von hinten angerollt. Wir sprangen zur Seite und warteten. Sie hielten an und die jungen Soldaten, die offenbar betrunken waren und Lieder grölten, fragten, ob sie uns ein Stück in Richtung Westen mitnehmen sollten. Wir sprangen auf. Ich setzte mich auf das Kanonenrohr und fand das herrlich. Eine Stunde lang fuhren wir geradewegs in Richtung Front. Erst allmählich, als wir von weitem das Knallen in der Abendluft hörten, wurde mir mulmig und ich rief: „Lasst uns hier abspringen! Da ist was vor uns.“ Gesagt getan. Die Panzer rollten weiter und erst später hörten wir, dass sie die letzten Kämpfer im Raum Osnabrück waren. Als ich später erfuhr, dass Egon in dieser Gegend gefallen ist, fragte ich mich, wo ich da gerade war. War ich ihm gar begegnet und hatte nichts davon geahnt?
Die Engländer waren schon in der Gegend. Doch wo? Für uns war nicht erkennbar, wo die Front schon durch war und wo nicht. Nur weiße Fahnen aus den Fenstern gaben Gewissheit. Wir schliefen wieder in einer Scheune. Mitten in der Nacht fuhr ein Militärfahrzeug auf den Hof. Wir hörten Männerstimmen und Gewehrkolben gegen den Bretterverhau schlagen. Es waren Englänger, die auf der Suche nach versteckten deutschen Soldaten von Haus zu Haus zogen. Wir kauerten uns hinter den Heuhaufen und warteten mucksmäuschenstill ab. Nichts passierte. Dann heulte der Motor des Jeeps auf und die Soldaten brausten vom Hof. (…)
Der Kampf um Rheine war vorbei, soviel war klar. Auf unserem Weg trafen wir grölende und jubelnde englische Soldaten, die uns in ihrer ausgelassenen Stimmung Päckchen zuwarfen. Wir waren skeptisch, warteten am Straßenrand, bis sie vorbei waren und erst dann sahen wir nach: es war Schokolade! Das Licht war schon fahl, als wir fast am Ziel waren. Wir zogen durch einen menschenleeren Vorort der Stadt, als hinter uns ein Jeep der englischen Militärpolizei anhielt. Wir mussten unsere Papiere vorzeigen und wurden auf Englisch befragt, wo wir herkämen, was wir hier suchten und ob wir nicht wüssten, dass es mit Einbruch der Dunkelheit ein Ausgehverbot gebe. Mit unserem Pennäler-Englisch versuchten wir uns zu erklären, doch offenbar wenig glaubhaft. Die Soldaten warfen unsere Rucksäcke in den Jeep und forderten uns barsch auf einzusteigen. Die Fahrt führte geradewegs ins Gefängnis.
Aus:
Franzis Pliester
Bange war ich nie, 2017